Analphabetismus (Thema: Der Vorleser)

Die Bedeutung des Analphabetismus in Bernhard Schlinks "Der Vorleser"

Schnellübersicht
  • Analphabeten haben stark eingeschränkte oder nicht existente Lese- und Schreibfähigkeiten.
  • Alltägliche Aufgaben sind für sie unmöglich. Sie leben in ständiger Angst davor, dass ihr Analphabetismus auffliegt und entwickelt Strategien, um ihn zu verstecken.
  • In "der Vorleser" ist Hanna Analphabetin.
  • Sie hat große Angst davor, dass ihr Analphabetismus entdeckt werden könnte und erfindet immer neue Ausreden, um lesen und schreiben heimlich aus dem Weg zu gehen.
  • Vor Gericht lädt sie Schuld auf sich, um auch dort ihren Analphabetismus zu verstecken (sie geht lieber ins Gefängnis, als dass ihr Defizit erkannt wird).
  • Im Roman wird Analphabetismus mit Unmündigkeit gleichgesetzt, das Erlernen von Lese- und Schreibfähigkeiten entsprechend als Ausbruch aus der Unmündigkeit.
  • Es sind deutliche Parallelen zur Aufklärung zu erkennen (siehe Zitat von I. Kant weiter unten).



1. Analphabetismus allgemein


Wikipedia definiert Analphabetismus wie folgt (Quelle):

Zitat: Wikipedia Artikel: Analphabetismus
Als Analphabetismus bezeichnet man kulturell, bildungs- oder psychisch bedingte individuelle Defizite im Lesen und/oder Schreiben bis hin zu völligem Unvermögen in diesen Disziplinen.

Innerhalb der Gesellschaft nehmen Analphabeten eine Außenseiterrolle ein. In den meisten Fällen gehören sie zur niedrigsten gesellschaftlichen Schicht und arbeiten in schlecht bezahlten, unqualifizierten Berufen.
Der Analphabetismus macht selbst alltägliche Dinge wie Briefe/eMails schreiben, Bücher lesen oder im Internet surfen unmöglich. Je nach Grad des Analphabetismus kann auch der Umgang mit Zahlen (Telefonnummern, Preise) erschwert sein.
Für Betroffene kommt die Scham als besondere Belastung hinzu. Sie befürchten, dass ihr Umfeld sie möglicherweise ausgrenzen könnte, falls diese vom Analphabetismus erführen. Das Resultat ist das Entwickeln von Verheimlichungsstrategien, um das eigene Defizit vor anderen zu verstecken. Nichtsdestotrotz bleibt aber die ständige Angst vor dem Entdecktwerden, sowie eine ebenso beständige Einschränkung der eigenen Möglichkeiten.


2. Analphabetismus im Vorleser


Im Roman "der Vorleser" ist Hanna vom Analphabetismus betroffen. Aus ihrem Verhalten geht sogar hervor, dass sie keinerlei Lese- und Schreibkenntnisse besitzt - und diese nicht nur eingeschränkt sind.
Daraus folgen für Hanna die oben erwähnten typischen Symptome:
  • Sie ist deutlich in ihren eigenen Möglichkeiten der Lebensführung eingeschränkt.

    Beispielsweise kann sie vor dem Ausflug mit Michael über Ostern hinweg keinen Einfluss auf den geplanten Weg nehmen, da sie keine Karten lesen kann. Außerdem ist sie selbst während der Reise orientierungslos (Straßenschilder helfen ihr nicht weiter), was an einer Stelle zu einer offensichtlich panischen Reaktion führt, als sie kurzfristig glaubt, Michael habe sie alleine in einem Hotel zurückgelassen.
    Im Bereich der Lebensführung ist auch sehr wichtig, dass sie mehrere Aufstiegschancen in verschiedenen Berufen fallen lässt, da sie diese als Analphabetin nicht wahrnehmen konnte.
  • Hanna empfindet große Angst davor, dass jemand von ihrem Analphabetismus erfahren könnte.

    Die Angst ist bei ihr so groß, dass sie sogar beim Gerichtsprozess zu ihren Ungunsten Schuld auf sich lädt, nur um zu verhindern, dass die Beweise genauer geprüft werden. Bei solch einer Überprüfung der Beweise wäre nämlich ihr Analphabetismus aufgeflogen.
  • Hanna hat Strategien entwickelt, um ihren Analphabetismus zu verheimlichen.

    So lässt sie z.B. beim Besuch eines Lokals Michael für sie das Essen auswählen, da sie sich angeblich einmal um nichts kümmern wolle. In Wirklichkeit war es ihr schlicht nicht möglich, die Speisekarte zu verstehen.
  • Hanna grenzt sich selbst aus.

    So gibt Michael an einer Stelle an, dass er Hanna nie beim Einkaufen, bei einem Kinobesuch oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt außerhalb ihrer Wohnung angetroffen habe (während Teil 1 des Buches) - und das, obwohl sein Haus und das von Hanna nur in geringer Entfernung zueinander lagen (nur wenige hundert Meter Abstand).


3. Bedeutung/Interpretation


Für Hanna ist ihr Analphabetismus durch den gesamten Roman hindurch äußerst einengend und behindernd. Sie steht außerdem in starker Abhängigkeit zu anderen Menschen, da sie viele Aufgaben des alltäglichen Lebens nicht alleine meistern kann (siehe Osterausflug). Weiterhin ist ihr Informationsfluss deutlich eingeschränkt, denn sie kann Informationen nur über den mündlichen Weg erhalten, nicht aber über den schriftlichen (Bücher, Zeitungen).
Der Analphabetismus wird daher im Buch mit der Unmündigkeit gleichgesetzt. Als Hanna schließlich lesen und schreiben lernt äußert sich Michael wie folgt:

Zitat: S.178 (Mitte)
Analphabetismus ist Unmündigkeit. Indem Hanna den Mut
gehabt hatte, lesen und schreiben zu lernen, hatte sie den
Schritt aus der Unmündigkeit zur Mündigkeit getan,
einen aufklärerischen Schritt.

Wer verstehen will, wieso Michael hier ausgerechnet auf die Aufklärung zu sprechen kommt, für den sei hier einmal ein wichtiges Zitat von Immanuel Kant erwähnt (wichtiger Vertreter der Aufklärung):

Zitat: Immanuel Kant zur Frage "Was ist Aufklärung?"
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Und tatsächlich nutzt Hanna auch nachdem sie lesen und schreiben gelernt hat intensiv ihren eigenen Verstand und beschäftigt sich mit Literatur über die NS-Verbrechen. Mit der Zeit erkennt sie ihre eigene Schuld und zerbricht schließlich an dieser:

Zitat: S.187 (unterhalb der Mitte)
Auch das Gericht konnte nicht
Rechenschaft von mir fordern. Aber die Toten können es.
Sie verstehen.

Am Ende bringt sie sich schließlich um, vermutlich aufgrund der Erkenntnis über ihre eigene Schuld.

Man kann spekulieren, dass Bernhard Schlink möglicherweise Hanna als einzelne Repräsentantin all derjenigen gewählt hat, die die NS-Regierung und das System zur damaligen Zeit unterstützt haben, ohne viel darüber nachzudenken. Möglicherweise wirft er den Menschen über diesen Weg gerade dieses nicht-Nachdenken und nicht-Eingreifen - also die selbstverschuldete Unmündigkeit - vor.

Kommentare (7)

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Wir bitten um ihr Verständnis.
im artikel steht ja man kann nur über den grund ihres todes spekulieren.was auch so ist.hanna erkennt auf jeden fall ihre schuld. deshalb liegt es nahe das sie sich aufgrund dieser erkenntnis umgebracht hat.ein weiterer faktor ist, dass sie ein recht "erfolgloses" leben geführt hat.
JBaron (Gast) #
Eine keine Anmerkung: ich würde nicht sagen, dass Hanna an ihrer Schuld zusammenbricht. Wenn dies der Fall wäre, hätte sie etwas unternommen, um ihre Schuld zu begleichen. Selbstmord und dann eine kleine Summe zu hinterlassen deuten nicht unbedingt auf ihre Reue hin, die sie angeblich fühlt. WEnn man sich Hannas Lebensmuster näher betrachtet, erkennt man, dass sie immer- ob es nun auf Grund ihres Analphabetismuses war oder sonst warum- immer davon gelaufen ist, sich der Verantwortung entzogen hat. Am Ende begegnen wir genau der Selben Hanna, wie sie es als KZ- Aufseherin war, mit Unteschied, dass sie nun Lesen und SChreiben gelernt hat. Das sie darüberhinaus noch Michale beauftragt anstelle von ihr die Spende der Judenorganisation zu übergeben, zeigt nur, wie wenig sie verstanden hat:

a)mit Geld ist die Schuld nicht zu begleichen und

b) bereuste etwas und willst es wiedergutmachen, dann tu es gefälligst selber!

Ach und Fakt ist, dass meistens sich die NS-Opfe umgebracht haben, nicht die Verbrecher.Gefährliche Parallel finde ich...
Omnibussy (Gast) #
Ich fände noch wichtig hinzu zu fügen, dass Hanna Michael dazu zwingt in die Scvhule zu gehen (---> Damit es ihm nicht so geht wie ihr)

Sie sagt auch irgendwo soetwas wie: Weisst du wie es ist den ganzen Tag Fahrkarten abzureissen...
Andi Gewehre (Gast) #
In den Stichpunkten oben muss es !nicht! "entwickelt" sondern "entwickeln" heißen :)



(Stichpunkt Nr. 2)
ArnoNuehm (Gast) #
Danke für den Hinweis.

Der Fehler wurde korrigiert.
wichtl (Admin) #
Sie hat große Angst davor, dass ihr Analphabetismus entdeckt werden könnte und erfindet immer neuer Ausreden, um lesen und schreiben heimlich aus dem Weg zu gehen.



-> FEHLER: immer neuer Ausreden!
Judith (Gast) #
Sie hat große Angst davor, dass ihr Analphabetismus entdeckt werden könnte und erfindet immer neuer Ausreden, um lesen und schreiben heimlich aus dem Weg zu gehen.



-> FEHLER: immer neuer Ausreden!
Judith (Gast) #
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